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Der letzte Akt - Ein Stolperstein für Kurt Brüssow

Zur Person

Der letzte Akt
– Ein Stolperstein für Kurt Brüssow


Wie nähert man sich eigentlich respektvoll und sensibel genug einem so heiklen Thema wie dem der systematischen Verfolgung und Vernichtung all derer, die im dritten Reich nicht ins arische Weltbild des Naziregimes passten, ohne dabei zu dilettantisch, zu pathetisch, zu betroffen zu erscheinen? Wie trifft man den richtigen Ton? Geht das in diesem Kontext eigentlich aus rein sachlicher Perspektive?

Ich weiß es ehrlich gesagt nicht!

Wahrscheinlich funktioniert das nur, wenn man sich diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Gegenwartsgeschichte rein analytisch, wissenschaftlich distanziert und völlig neutral widmet.

Für mich als schwulen Mann gilt das leider nicht. Es betrifft mich!

Wäre ich in dieser schrecklichen und menschenverachtenden Zeit geboren worden, hätte ich mit Sicherheit eine recht kurze Lebenserwartung gehabt. Denn neben Juden, Sinti, Roma, Kranken, politisch Andersdenkenden, den Zeugen Jehovas und Staatsfeinden jeglicher Couleur waren es ebenso die Homosexuellen, denen unter dem NS-Regime Verfolgung, Entmenschlichung, Folter und Tod drohten. Einfach, weil sie anders waren! Minderheiten, auf die man seine Ängste, seinen Hass und seine Wut projizieren kann, um das eigene fehlerhafte Ego emporzuheben.

Ich kann mich also glücklich schätzen, nur knappe vierzig Jahre später geboren zu sein. Ich war in meiner Jugend nur den stereotypen Anfeindungen meiner Umwelt ausgesetzt, die man als Schwuler, der auf dem Land aufwächst, eben so zu ertragen hat. Natürlich absolut kein Vergleich zu den lebensbedrohlichen Umständen im dritten Reich, dennoch einprägsam für einen Heranwachsenden, der selbst noch nicht einmal weiß, was er ist.

Doch Gott sei Dank hat sich in der Zwischenzeit, also nach 1945, politisch und gesellschaftlich sehr viel getan. Der §175, der Homosexualität unter Strafe stellte, ist getilgt, allerdings auch erst 1994. Wir sind steuerlich gleichgesetzt. Wir dürfen mittlerweile mit dem Segen des Staates heiraten. Schwule gehören zum täglichen Mediengeschehen und das nicht unbedingt immer nur als klischeehafte Lachnummer. Wir können ein gutes Leben führen, wenn optimale Faktoren zusammentreffen. Aber wer jetzt denkt, alles hätte sich für die Homosexuellen zum Guten gewendet, der irrt. Vielleicht mag es in vielen Bereichen des täglichen Lebens selbstverständlicher geworden sein und in Großstädten wie Köln oder Berlin, im Dschungel der Anonymität, des bunten Miteinanders, der Vielfältigkeit und Offenheit ein vermeintlich schwules Paradies unter dem schützenden Dach des Regenbogens, ein rosarotes Paralleluniversum geben, aber schon ein wenig außerhalb dieser Scheinwelten gibt es sie noch immer – die Homophobie, die Diskriminierung, den Hass, die Ausgrenzung. Irgendetwas gärt und brodelt da unter der Oberfläche der Kleinbürgerlichkeit deutscher Haushalte und läuft in eine völlig falsche Richtung.

Denn diese hasserfüllten Stimmen aus der Vergangenheit hört man nun wieder überall. Weg waren sie eigentlich nie. Vielleicht traten sie mal als Flüstern aus dem Hintergrund in Erscheinung, als Tuscheln hinter vorgehaltener, wutbürgerlicher Hand oder als vereinzeltes Brüllen Springerstiefel-beschuhter Randgruppen mit Einheitshaarschnitt in Problemvierteln.

Doch heute keifen sie wieder vermehrt aus allen Ecken und Winkeln, ob man sie hören will oder nicht. Entziehen kann man sich ihnen kaum. Sie kreischen völlig entfesselt auf den Straßen, wo Muddi mit Kind neben Skinhead mit Glatze und Oma mit Hut als kreuz- und „querdenkende" Verschwörungstheoretikerin gegen „Ökofaschisten" zu Felde zieht. Sie schreien im Netz, dem Fernsehen, dem Büro und in Nachbars Garten. Sie wüten und toben sogar wieder im Parlament, dem heiligen Tempel der Demokratie. Sie bemächtigen sich bemerkenswerterweise des Wortes „Freiheit", dabei ist es doch diejenige, die sie zu zerstören suchen. Wo soll das bloß hinführen? Hoffentlich nicht wieder dorthin, wo wir schon mal waren . . .

Damit es nicht soweit kommt, ist es unerlässlich Position zu beziehen, eine Haltung zu entwickeln, nicht nur als Schwuler, Jude oder Zeuge Jehovas, sondern als Mensch. Denn das betrifft uns alle! Bringen wir diese hasserfüllten Stimmen zum Verstummen!

Ich bin kein großartig politisch Denkender, gehe zwar wählen und schau mal die Tagesthemen, bin aber ansonsten nicht sonderlich aktiv. Ich bin froh zu wissen, dass unser Außenminister Timo Maas heißt. Oder war`s doch Heiko?!? (Egal, ich will nicht anMaasend klingen, aber Namen sind doch Schall und Rauch!) Ich bilde mir jedoch ein, beurteilen zu können, was sich gut und richtig anfühlt. Und das tut es seit einiger Zeit in vielen Teilen unserer ansonsten lebenswerten Gesellschaft eben nicht mehr.

Doch was macht man gegen dieses mulmige Gefühl in der Magengegend im Rahmen seiner eigenen, individuellen und begrenzten Möglichkeiten?

Da gibt es sicherlich viele Ansatzpunkte. Ich für meinen Teil kam schließlich auf die Idee eines „Stolpersteins". Diese 10x10x10cm-großen Messingwürfel des Künstlers Gunter Demnig, die er seit 1992 in vielen deutschen Städten verlegt, um an die Opfer der NS-Zeit zu erinnern. Diese goldschimmernden Mahnmale im tristen Grau des Straßenpflasters, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht und mal einen Blick nach unten riskiert. Die fand ich schon immer toll. Ich mag die Idee dahinter, und die Geste, die sich einem unwillkürlich aufzwingt, wenn man darüber „stolpert". Man verharrt, hält inne und verneigt sich vor dem Schicksal derer, deren Name darauf prangt. Dort, vor der letzten Wohn- und Wirkungsstätte derjenigen, die nachts aus ihren Betten gerissen und zur Zwangsarbeit, Erniedrigung und Ermordung in ein Konzentrationslager deportiert wurden.

Mag sein, dass mein Vorhaben zwar nicht die Welt verändern würde, es wäre aber ein 10x10x10cm-großer Beitrag. (Das es am Ende doch mehr sein würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.)

Also, die Idee war schon mal geboren. Ein „Stolperstein" zu Ehren eines homosexuellen Opfers der NS-Diktatur sollte es werden. Wenn möglich irgendwo im Dunstkreis meiner Heimat Rügen, damit der persönliche Bezug noch etwas mehr hervortritt. Aber wie stellte ich das an? Wie bekomme ich den Stein dorthin und das allerwichtigste, für wen sollte er sein?

An dieser Stelle kommt der Schwulen-Aktivist und Historiker Jürgen Wenke aus Bochum ins Spiel.

Nach ein bisschen Stolperstein-Gegoogel wurde ich nämlich fündig und stieß auf die Website
www.stolpersteine-homosexuelle.de, einem virtuellen Mahnmal gegen rechte Hetze und für eine lebendige Erinnerungskultur, einer Enzyklopädie homosexueller Opfer des Naziregimes, die darin mit dem Nacherzählen ihrer individuellen Geschichten und in der Realität mit einem Stolperstein oder gar einer Straßenbenennung gewürdigt werden.

Der Initiator dieser Website ist besagter Jürgen Wenke, der sich mit Herzblut, Ausdauer, Akribie und unendlich viel Engagement auf die Spuren all jener begibt, denen im dritten Reich aufgrund ihres Schwulseins unvorstellbares Unrecht widerfahren ist. Er spürt sie auf, entstaubt dafür alte Dokumente, erklimmt Aktenberge, kämpft gegen Behörden, Ämter, Steine-in-den-Weg-Leger, bereist Orte, kooperiert mit Befürwortern, spricht mit Angehörigen, investiert Zeit, Geld und Nerven. Und das alles ehrenamtlich, weil es (ihm) wichtig ist!

Als ich vor über zwei Jahren Kontakt zu ihm aufnahm, hatte ich noch nicht den Hauch einer Ahnung, was da auf mich zukommen und an Eindrücken auf mich einprasseln würde, so als naiven Fragensteller, der zuvor mal „Schindler`s Liste" und „Der Pianist" gesehen hatte.

In vielen Telefonaten und in regem E-Mail-Austausch erläuterte mir Jürgen seine Arbeitsweise, unterbreitete mir seine Ideen und machte Vorschläge. Ich weiß bis heute nicht, wie er schon nach relativ kurzer Zeit geeignete „Kandidaten" für unser Stolperstein-Projekt ausfindig machen konnte, die meinem Wunschkriterium entsprachen - also die Heimatnähe. Recht schnell stach ein Name hervor, der, des Schauspielers Kurt Brüssow.

Wow, ein Schauspieler, der zufälligerweise an den Theatern in Greifswald und in Putbus beschäftigt gewesen war! Näher an meiner Heimat Rügen ging es ja gar nicht. Außerdem ließen die wenigen Informationen, die Jürgen bereits zu diesem Zeitpunkt herausarbeiten konnte, eine interessante Familiengeschichte vermuten. Das klang vielversprechend. Ein Mensch und nicht nur ein Opfer, zu dem man Empathie würde aufbauen können, weil man so viel über ihn erfahren könnte. Wie viel das sein würde, konnte selbst Jürgen an dieser Stelle noch nicht wissen.

Aber es würde reichen, um am Ende eine 100 Seiten starke Biographie Brüssows erstellen zu können. Und diese liegt nun vor . . .

„Was bleibt, wenn der Vorhang fällt?" Wir erinnern an Kurt Brüssow.

Der Autor Jürgen Wenke nimmt uns darin auf eine ebenso erschütternde wie aufklärerische Reise in die Vergangenheit des Schauspielers mit, der am 09. Dezember 1910 in Stettin geboren wurde. Er lässt uns teilhaben an den Lebensumständen, die seinerzeit vorherrschten, und schafft damit eine Atmosphäre des Nachvollziehbaren, womit sein Werk nicht nur als reine Biographie, sondern auch als Zeitdokument zu verstehen ist.

Wir erfahren wie Kurt Brüssow nur aufgrund seiner Liebe zum gleichen Geschlecht verfolgt, denunziert, verurteilt, mehrfach verhaftet und schließlich ins Moorlager im Emsland und in die deutschen Konzentrationslager Auschwitz und Flossenbürg deportiert wurde. Wir werden Zeugen seines unerbittlichen Kampfes gegen das an ihm begangene Unrecht und für seine Freiheit. Wir lernen die Eltern Brüssows kennen, welche aufopferungsvolle Rolle sie dabei spielten und welchen hohen Preis Brüssow selbst zahlen musste, um zu überleben. Wir erfahren, wie er diesen Kampf auch im Nachkriegsdeutschland weiter ausfechten musste, da ihm auch dort die verdiente und längst überfällige Gerechtigkeit verwehrt blieb. Wir lernen seine spätere Familie kennen, eine Kriegerwitwe mit zwei kleinen Buben, und erleben damit auch ungeahnte Momente des Glücks und der Freude. Wir tauchen immer tiefer ein in die Geschichte eines Mannes, dessen Standhaftigkeit und Lebenswillen zutiefst beeindruckend sind. Wir gehen gemeinsam mit ihm diesen Weg, der zwar mit seinem Tod 1988 in Penzberg am Starnberger See endet, jedoch Wellen bis in die Gegenwart schlägt.

Denn Jürgen Wenke war es im Zuge seiner Recherchen gelungen, die Enkelkinder Brüssows ausfindig zu machen. Diese konnten ihrerseits einen unverzichtbaren Beitrag zur Vervollständigung der Biographie ihres Großvaters leisten und, da bin ich mir sicher, die eigene persönliche Geschichte um viele aufschlussreiche Details ergänzen. Und hier schließt sich dann der Kreis, 110 Jahre nach Kurt Brüssows Geburt.

Und, als ob es der Zufall wollte, findet nun am 09. Dezember 2020 die offizielle Verlegung des Stolpersteins für Kurt Brüssow vor dem Theater in Greifswald statt. Ich trau mich in diesem Zusammenhang gar nicht von einem Happy End zu sprechen, wage es aber dennoch, da es dem zumindest auf symbolische Art doch ziemlich nah kommt.

Bleibt zu hoffen, dass es dies für unsere gespaltene Gesellschaft auch irgendwann geben wird!

Lars Kramer
im November 2020

P.S. Dieser Bericht spiegelt lediglich meine subjektive Sicht auf die politischen und gesellschaftlichen Dinge wider und soll keinen absoluten Zustand der Situation abbilden. Er dient einzig und allein der Darstellung des Weges zum Stolperstein für Kurt Brüssow, des Erläuterns meiner Beweggründe und des Verweises auf dessen Biographie von Jürgen Wenke, bei dem ich mich an dieser Stelle für die tolle Zusammenarbeit bedanken möchte. Ohne ihn, hätte niemand von Kurt Brüssow erfahren.

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